Ein paar Gedanken zur Debatte um Herrn Sarrazin

Ich schreibe das, um mir etwas Ordnung zu schaffen in diesem Chaos an Artikeln, Meinungen und Beiträgen, zu denen sich so mancher in Abwesenheit relevanter Themen hat hinreissen lassen. Vorweg: Ich habe das Buch nicht gelesen. Was ich schreibe ist alles nur geklaut, gestohlen, nur gezogen und geraubt.

Weshalb ich die Debatte ablehne:

1. Sie existiert um ihrer selbst Willen
Das lästigste an der ganzen Debatte ist wohl, dass man von vornherein weiss, dass sie keinen Nutzen hat, keine Ergebnisse bringt, keine Lösungen gebärt, nicht einmal das eigentliche Problem greifbar macht. Alles in allem: A total waste of time. Eine Zeitverschwendung auf dem Buckel irgendeiner beliebigen Minderheit. Auseinandersetzung und Kontroverse um ihrer selbst und nicht der Ergebnisse willen. Das ist mir offengestanden zu wider. Das dient nicht der so oft beschworenen demokratischen Diskussionskultur. Im Gegenteil, dieses Verhalten unterminiert eben jene Diskussionskultur und Diskursfähigkeit, die jeder Demokratie zugrunde liegen. Das solche Debatten von Qualitätsmedien angestossen und verstärkt werden, ist gelinde gesagt besorgniserregend.

3. Wegen ihrer dubiosen Prämisse
Am Ursprung der Debatte liegen Aussagen Sarrazins, die einen bewiesenen Zusammenhang zwischen Genen und Intelligenz suggerieren. Mithilfe der Rassentheorien wird diese Aussage dann weiter zugespitzt. Das geht dann zuerst über die Feststellung:
„Alle Juden teilen ein bestimmtes Gen, Basken haben bestimmte Gene, die sie von anderen unterscheiden.“ *

Und führt dann zu folgender These, die Sarrazin scheinbar seinem Buch zugrunde gelegt hat:
Prämisse: 50 – 80% unserer Intelligenz ist durch die Gene bestimmt.
Fakt 1: Immigranten in X (man setze hier beliebiges Mittel- bis Westeuropäisches Land ein), haben eine höhere Geburtenrate als Bürger von X.
Fakt 2: Immigranten in X (man setze hier beliebiges Mittel- bis Westeuropäisches Land ein) sind im Schnitt genetisch dümmer veranlagt.
Fazit: Die Gesellschaft von X “wird auf natürlichem Weg dümmer”.

Ob die Prämisse stimmt oder nicht, ich kann es nicht beurteilen. Hängt mitunter davon ab, welchen Genforschern ich vertraue und welchen nicht. Das hängt dann ehrlicherweise davon ab, welcher Meinung ich selbst bin. Da ich mich selber mit einer ähnlichen Thematik befasst habe – konkret mit der Modellierung von Intelligenz in arbeitsökonomischen Modellen – weiss ich auch ein wenig über die methodischen Schwierigkeiten Bescheid, die im Zusammenhang mit Intelligenz fast immer auftreten. Die Probleme beginnen schon bei der Definition. Wer bestimmt was Intelligenz ist, und was nicht. Darüber besteht heute kein Konsens. In der empirischen Forschung treten zusätzlich Unschärfen und Verzerrungen auf, die eine Interpretation der Ergebnisse schwierig machen (der Pygmalion-Effekt ist ein interessantes Beispiel dafür). Was am Ende der Studie dann als „harte Fakten“ und „wissenschaftlicher Befund“ verkauft wird, ist etwa so nah dran an der Wirklichkeit wie Uwe Boll am Oscar. Deshalb findet sich auch zu jeder Meinung die passende Studie, und genau deshalb ist es nicht korrekt, wenn hier einseitige „wissenschaftliche Fakten“ ins Feld geführt werden, auf welchen dann eine Diskussion aufgebaut wird, die uns etwa 70 Jahre zurück wirft. Und nein, Scheisse darf man nie, weder gestern noch heute, „noch sagen dürfen“.

3. Weil wir das alles schon einmal hatten
Und zwar als das Buch „The Bell Curve“ publiziert wurde. Hier ein Auszug aus unserem kollektiven Gedächtnis:

„While the book’s popularity was mostly propelled by its controversial claims regarding race and intelligence, both the accuracy of those claims and the qualifications of the authors soon came under attack in the media. Herrnstein died before the book was released, leaving its public defense to co-author Charles Murray. Although Herrnstein was a psychologist, Murray is a conservative think tank analyst with a Ph.D. in political science and no credentials in psychometrics. The book has been condemned by numerous scholars.“

Die Debatte um das Buch ging soweit, dass die American Psychological Association eine Task Force einrichtete, um in den Wust aus Halbwahrheiten und gefühlten Fakten etwas Licht zu bringen. Die Task Force schloss abschliessend fest (einmal mehr geklaut von Wikipedia):

  • IQ scores have high predictive validity for individual differences in school achievement.
  • IQ scores have predictive validity for adult occupational status, even when variables such as education and family background have been statistically controlled.
  • Individual differences in intelligence are substantially influenced by both genetics and environment.
  • There is little evidence to show that childhood diet influences intelligence except in cases of severe malnutrition.
  • There are no statistically significant differences between the IQ scores of males and females.

Das Zitat „Die Geschichte lehrt die Menschen, dass die Geschichte die Menschen nichts lehrt” stammt übrigens von Ghandi. Nur so.

4. Sie baut auf ein utilitaristisches Menschenbild
Es ist eklig, das von Sarrazin und seinen Befürwortern zugrunde gelegte Menschenbild. Zum Beispiel stellt Philippe Gut in der jüngsten Weltwoche verwundert fest: „Welche Ausländer wollen wir? Welche bringen dem Land etwas, welche liegen uns auf der Tasche? Erstaunlicherweise liegt bis heute keine umfassende Kosten-Nutzen-Analyse der Einwanderung vor“. Wohl als Kür gedacht war dann seine an argumentatorischer Finesse kaum zu überbietende Feststellung: „Intuitiv weiss eigentlich jeder – was Sarrazin ausspricht, ist eine Binsenwahrheit.“ Ich bin sprachlos! Aber zurück zum Menschenbild: Diese Idee, den Wert eines Menschen “messen” zu können, ist an sich eklig. Denkt man das nämlich konsequent weiter frage ich mich: Mit welchen Augen sieht der Herr Gut denn die Schwächsten der Gesellschaft?  Welchen Wert hat ein Kind? Es arbeitet nicht, verursacht monetäre und andere Kosten, und ist verantwortlich für den teilweisen oder vollständigen Ausfall einer Arbeitskraft. Einfach schrecklich, diese Kinder – nicht wahr, Herr Gut? Utilitarismus taugt vielleicht etwas als ökonomisches, jedoch nur beschränkt als ethisches Prinzip, und erst recht nicht als Menschenbild. In der Welt von Herrn Gut möchte ich nicht leben, und er wahrscheinlich auch nicht, gegeben der Annahme, dass sich seine Artikel ebenfalls oben genannter Kosten-Nutzen-Analyse unterziehen müssten.

Am Ende sprichen soviele Dinge gegen diese Debatte, dass mancher sich wundert, weshalb sie trotzdem geführt wird. Let’s follow the money: The Bell Curve hat sich über eine halbe Million Mal verkauft. Der Start ist Thilo Sarrazin auf jeden Fall auch gelungen, sofern man Amazon glauben möchte.

Schöne neue Welt.

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Kick Ass: The Movie – Kurzrezension

Die Story von Kick Ass rasch zusammengefasst: Hier die schöne Prinzessin, die es zu erobern gilt, und bei der man als Durchschnittsloser (natürlich) keine Chance hat zu scoren. Dort die dark side: Bullies, Strassengauner, Drogendealer, Prostituierte und Gangsterbosse. Durchschnittlicher Stoff für einen durchschnittlichen Streifen. Tatsächlich gelingt es dem Film nicht, an den entscheidenden Stellen über sich hinauszuwachsen.

Erstens versäumt Kick Ass die sozialen Prämissen zu hinterfragen, welche den Erfolg seines Helden in der Realität erst möglich machen. Im Grunde ist die Figur Kick Ass die idealistische Antwort eines Jugendlichen auf die entsolidarisierte Gesellschaft, im Film dargestellt durch jene Ansammlung handlungsunfähiger Gaffer, welche angesichts brutaler Verbrechen nur paralysiert das Handy zückt und filmt, in der Hoffnung den nächsten Youtube-Renner auf die SD-Card zu bannen.  Kick Ass will das ändern, und was als Jugendfantasie beginnt, wächst dem Protagonisten rasch über den Kopf und wird zum medienwirksamen Massenphänomen. Der Möchtegern-Superheld Kick Ass, dieser Neoprenanzugträger, wird zur Inspiration und Vorbild für eine orientierungslose Jugend (insbesondere deren männlicher Vertreter). Er steht für das fremd gewordene Ideal des Mitgefühls – und legt sich damit ungewollt mit der Unterwelt an, die von der Teilnahmslosigkeit der Gesellschaft lebt. Die Hatz der Mafiosi auf Kick Ass gipfelt schliesslich in der tragischen Ermordung eines Doppelgängers. Kick Ass verspielt hier leichtfertig die Chance, etwas mehr zu sein als auf Stimulus getrimmte ADHS-Unterhaltung. Der Streifen weigert sich fast schon penetrant, die gesellschaftlichen Aspekte der Superheldenthematik aufzugreifen und in den Fokus zu rücken. Dass es auch besser geht bewies zum Beispiel der letzte Teil der Batman-Trilogie The Dark Knight, welcher den inspirativen Charakter von Superhelden zum Kernthema machte, und die Zivilgesellschaft von Gotham City im Showdown sogar zum Helden erhob. Das war grosses Kino, oder Kino für Grosse.

Ein zweiter Punkt ist die voyeuristische Zurschaustellung extremer Gewalt, mit welcher versucht wird, über die eben angesprochene Absenz grosser Themen hinwegzutäuschen. Kick Ass ist durchzogen von einer Brutalität, welche vom Kindesalter  der Charaktere –  Dave Lizewski alias Kick Ass ist 16, seine Heldenkollegin Mindy Macready alias Hit Girl gerade mal 10 Jahre alt – auf teils absurde, teils groteske Art und Weise kontrastiert wird. So wirbelt das Hit Girl, spektakulär in Szene gesetzt und von Gute-Laune-Mucken wie Joan Jett’s Bad Reputation begleitet, durch Gegnerhorden, spaltet Schädel, teilt Arme, trennt Beine, und das alles mit dem zuckersüssen Lächeln einer Zehnjährigen im Gesicht. Klar ist Schurken töten in Wirklichkeit ein brutales Business, welches gerade an kindlichen Helden nicht spurlos vorbeigehen kann und darf. Die Diskrepanz zwischen erwarteter und erlebter Superheldenrealität ist unter dem Aspekt der Gewaltdarstellung und -erfahrung besonders gross. Doch gerade das wird vom Film nicht wahrgenommen und sogar ins Perverse verdreht: die Gewalt scheint ohne negativen Konsequenzen zu bleiben. Besonders verstörend ist das im Fall des zehjährigen Hit Girls, dessen  Innenleben sich ohne weiteres auf den emotionslose Kern einer abgerichteten Tötungsmaschine reduzieren lässt. Das Kind scheint die Metzelorgien so einfach wegzustecken wie eine Rauferei auf dem Pausenhof. Ebenso konturlos: die Rolle ihres Vaters Big Daddy, welcher als Batman verkleidet Gangster aufmischt. Man erfährt, dass er seine Tochter mittels Gehirnwäsche die Kinderseele amputiert hat um sie als Werkzeug für seine Rachepläne zu (miss?)brauchen.  Der Einblick in die psychologische Konstellation dieser verkorksten Vater-Tochter-Beziehung bleibt eine Randnotiz.  Tiefgründige Charakterzeichnung sieht anders aus.
Schade eigentlich, denn das sind für mich Aspekte, welche das Gedankenspiel mit realen (Super-)Helden interessant machen, und welche beispielsweise im genialen The Watchmen eine deutlich feinere Elaboration erfahren. Kick Ass hingegen bleibt auf Augenhöhe mit dem nerdigen Highschool Student, und dem kindlichen Verständnis von Gewalt als  Männlichkeitsritual und (einzigen!) Zugang zu Respekt und Selbstverwirklichung. Das funktioniert kurzfristig; die aufmerksamkeitsheuschenden Gewaltexzessen halten den Adrenalinpegel über die knapp zwei Stunden hoch und treiben den Film bis zum Schluss. Dort aber bricht er zusammen, mit viel Oho, aber wenig Aha.
Weiteren Senf zum Film gibts hier, und zur Comicvorlage hier.

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